Striptease mit den Protas
Als meine beste Freundin mein erstes Buch durchgelesen hatte, war eines der ersten Dinge, die sie sagte: "Olivia ist wie du". Mein erster Impuls war, das abzustreiten, denn es gab ein paar Dinge an meiner Protagonistin, die ich nicht mal klitzeklein hinter meinem Ohr zu stehen haben wollte. Und überhaupt: Warum sollte jemand so wahnsinnig sein und sein Seelenleben vor potenziell so vielen Menschen ausbreiten? Zumal in der Ich-Perspektive erzählt wird. Näher dran an der Figur geht es nicht mehr. Wollte ich wirklich, dass Leser so dicht bei mir in meinen Gedanken sitzen und mit mir durch die Geschichte gehen? Das wäre wohl so, wenn Olivia wirklich ich wäre. Gut, dass mir das jetzt schon auffiel! Aber ernsthaft, warum macht man das eigentlich?
Wieviel von uns steckt in unseren Figuren?
Nach einigem Grübeln, Rückwärts-in-die-Zeit-Schauen und einem Blick in meine Notizen, wurde mir klar: Die Abbildung des eigenen Ichs in einer Figur ist genauso Blödsinn wie es absolut stimmt.
Nun muss man sich mal vor Augen führen, durch wieviele... na, sagen wir Wesen so ein Autor im Inneren bevölkert wird. Stellt auch einmal ganz bildlich vor, dass alle Figuren aus Harry Potter, von Peter Pettigrew bis Neville Longbottom, von Umbridge bis Mrs Weasley alle aus ein und demselben Geist kommen. So ein Autorenkopf gleicht damit verdächtig Hermines Handtasche. Nahezu bodenlos und man weiß nie, was herausgezogen wird.
Die Charaktere, die wir da aufs Blatt entwerfen, sind den Lesern später vielleicht so vertraut wie die Leute, die sie jeden Tag umgeben. Vielleicht sogar mehr. Wir haben als Leser intensive Beziehungen zu diesen Figuren. Dafür müssen dieselben atmen und leben. Verschroben, liebenswert oder zum Fürchten sein. Am besten alles auf einmal, das wäre ein Wurf! Für diese Mehrdimensionalität müssen die Autoren ihnen immens viel mitgeben. Schließlich kann das nicht aus dem luftleeren Raum kommen.
Und natürlich entstehen sie aus unseren Eindrücken von anderen Menschen, den tausenden Schnipseln, die wir Tag für Tag aus unserer Umwelt sammeln. Ja, auch aus Büchern, Filmen, Erzählungen, Beobachtungen auf der Straße, dem Alltag usw. Daraus setzen wir Figuren zusammen - und das funktioniert nicht, wenn nicht ein Stück von uns selbst hineinfließt. In jede Figur. Ob schön, ob schrecklich.
Wir müssen Ihnen ein Stück von unserer Stimme geben. Quasi eine Rolle, die wir uns richtig gut vorstellen können, überziehen und dann in ihr sprechen. Diesen Anteil, den wir dann von uns mit der Figur vermengt haben, den kriegen wir nicht mehr raus. Da laufen dann Stücke von uns selbst auf dem Papier herum. Wenn man länger darüber nachdenkt, kann das gruselig erscheinen. Da kommt leicht das Gefühl auf, uns Schicht für Schicht freigelegt, ausgezogen zu haben. Striptease mit und vor einem nicht gerade kleinen Cast. Die Figuren ziehen uns aus, weil sie an unser Innerstes herankommen müssen. Sie können gar nicht anders.
Und dann muss man sich auch noch darauf ansprechen lassen. "Die ist wie du." Natürlich ist sie das. Sie ist ja auch durch meinen Kopf gegangen. Genauso wie die arme Nebenfigur, die voller Hass war und schon in Kapitel vier nicht mehr mitspielen durfte. Und alle anderen, die ich hineinschreibe.
Wir müssen uns also ausziehen und uns mindestens von unseren Figuren ganz genau betrachten lassen. Ist aber auch nur fair, denn wir müssen sie ja auch auseinandernehmen, um sie zu verstehen. Fehlt uns dann vielleicht ab einem bestimmten Punkt die Distanz zu den Figuren? Sind deswegen oft Schreiber so schwer getroffen, wenn sie Kritik zu ihren Geschichten hören? Vielleicht.
Kritik an der Geschichte wird so schnell als Kritik an der Person empfunden.
Aber wir haben eine Chance. Die Chance, die Figuren in die Welt hinauszuschicken und irgendwann auf diesem Weg damit abzuschließen. Sie geistern jetzt nicht mehr in unserem Kopf herum, sondern in denen der Leser. Und das ist auch gut so.
Was wir als Schreiber tun können, ist still und heimlich in uns hinein zu lachen, weil nur wir ganz genau wissen, was an unseren Figuren ein Setzling unserer Persönlichkeit ist und wieviel aus der Außenwelt wir dazu genommen haben. Wir müssen es ja niemandem verraten.
Lassen wir los und bringen ein bisschen Abstand zwischen sie und uns. Dann dürfen die Leser ganz frei mögen und doof finden, wen sie wollen. Immerhin sind es ja „nur“ Figuren, die selbstständig werden müssen. Ihnen gehört unser ganzes Herzblut, während wir sie erschaffen und weiterentwickeln. Wenn wir sie dann aber auf die Welt loslassen, gehört die Welt ihnen.
Herzlichst,
Ellen